Lesehäppchen

Aus "Tausend Rosen"

 

Von seinem Beobachtungsposten aus hatte Pietro fast den gesamten Uferabschnitt im Blick und sah sie bereits von weitem kommen. Sara war zu Fuß unterwegs, offensichtlich hatte sie ihr Pferd in einiger Entfernung zurückgelassen. Sie kam eilig näher und blieb dann unvermittelt und schwer atmend stehen.Ein fiebriges Glücksgefühl jagte durch seine Adern. Was er sich fast nicht zu erhoffen gewagt hatte, war schließlich doch eingetreten – sie war gekommen!

Jetzt sah sie sich suchend um, doch kein Boot lag am Ufer, so wie am Vortag. Kein Laut war zu hören, es herrschte vollkommene Stille. Nicht einmal eine Grille zirpte im Gebüsch. Unschlüssig ließ sie sich auf die Fersen niedersinken und wischte sich mit dem Ärmel ihres dünnen Leinenhemds den Schweiß vom Gesicht.

Ein bisschen ließ er sie noch zappeln, genoss ihren Anblick, das Runzeln ihrer Stirn, als sie ganz offensichtlich überlegte, was sie nun tun, ob sie bleiben oder lieber wieder gehen sollte. Ein paar Augenblicke starrte sie zum Schiff hinüber, als erwarte sie, dass das Boot jeden Moment kommen und sie abholen und wie am Vortag an Bord bringen würde. Dann beschloss er, sie zu erlösen, bog einen kleinen Ast ein wenig zurück und ließ ihn dann mit einem Rascheln los.

Das Geräusch ließ sie herumfahren. Der Schreckenslaut, den sie auf den Lippen gehabt hatte, verwandelte sich unversehens in einen Freudenschrei.

„Ihr!“

„Ja, ich!“, antwortete er nun, löste sich mit einer geschmeidigen Bewegung von seinem Beobachtungsposten und kam auf sie zu.

Sie starrte ihm entgegen, bis er kurz vor ihr stehen blieb und sie immer noch lächelnd fixierte.

„Ihr seid noch hier!“ Nun breitete sich ein begeistertes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Ihr habt auf mich gewartet, nicht wahr?“

„Ja, Sara. Ich habe auf dich gewartet“, antwortete er schlicht mit der Wahrheit. „Und ich fürchtete bereits, du würdest gar nicht kommen.“

„Oh, ich wäre auf jeden Fall gekommen! Sie hätten mich schon in Ketten legen müssen, um zu verhindern, dass ich nach Euch suche!“, versicherte sie errötend. Dann senkte sie verlegen die Augen.

Sein Blick glitt wie eine Liebkosung über ihr Gesicht und blieb an ihren Lippen hängen.

„Ich habe ein kleines Picknick vorbereitet – hast du Hunger?“

„Nein“, gestand sie spontan, „eigentlich nicht. Aber ich tue, was immer Ihr wollt – auch essen, wenn Ihr das möchtet!“

Nun lachte er amüsiert auf. „Ich würde nie etwas von dir verlangen, was du nicht wirklich auch tun willst!“, versicherte er ihr und genoss ihr verschämtes Erröten, als ihr wohl die Doppeldeutigkeit seiner Worte aufging. „Komm!“ Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie ohne zu zögern ergriff.

Sie folgte ihm um eine Landzunge herum und schlüpfte hinter ihm durch ein Gebüsch. Nach wenigen weiteren Schritten fanden sie sich unversehens auf einer kleinen Sandbank wieder. Hier, vor indiskreten Blicken geschützt, war ein Sonnensegel aufgespannt, unter dem einige Teppiche auf dem sandigen Boden ausgebreitet waren. Ein Weidenkorb stand daneben, der das versprochene Picknick enthielt. Er setzte sich in den Schatten unter das Segel und forderte sie mit einer einladenden Geste auf, es ihm gleichzutun. Dann entnahm er dem Korb zwei kostbare, gläserne Pokale und eine ebensolche Karaffe, entstöpselte sie und schenkte ihnen beiden ein.

„Der Wein ist mit Wasser verdünnt“, beruhigte er sie. „Bei diesen Temperaturen erschien es mir unklug, ihn dir pur zu trinken zu geben!“

Ohne zu antworten nahm sie einen der Pokale entgegen und fixierte ihn über den Rand hinweg. Er erwiderte ihren ernsten Blick mit einem Lächeln. „Auf dein Wohl!“

„Auf Eures! Und darauf, dass Ihr noch hier seid.“

Nachdem sie getrunken hatte, nahm er ihr den Pokal aus der Hand und stellte ihn beiseite. „Bist du sicher, dass du nichts essen möchtest?“

Sie sah ihn kopfschüttelnd an. „Ich mag wirklich nichts!“

„Was möchtest du dann?“ Sein Lächeln vertiefte sich, als sie sich auf dem Teppich ausstreckte und die Arme hinter dem Kopf verschränkte.

„Einfach nur hier bei Euch liegen und Euch ansehen.“

Pietro legte sich neben sie auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. „Mich ansehen?“

„Ja, genau das. Ich hatte befürchtet, Ihr könntet tatsächlich schon fort sein – jetzt macht es mir Freude, dass Ihr leibhaftig vor mir sitzt!“

„Weißt du, dass es für mich schwierig werden könnte, mich auf das Sitzen zu beschränken?“

Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur mit großen Augen an.

„Weißt du außerdem, dass du kein geringes Risiko eingehst, indem du mich hier besuchst?“, fragte er weiter. Seine Stimme wurde leiser, aber auch eindringlicher.

„Ja“, hauchte sie fasziniert, „ja, das weiß ich.“

„Was weißt du?“ Sein Gesicht näherte sich langsam dem ihren.

„Ich weiß, was ich tue.“

„Weißt du das wirklich? Ich sagte dir gestern, du sollest dir deine Unschuld aufheben – erinnerst du dich?“

„Ich erinnere mich. Ich habe sie mir aufgehoben – für Euch!“

„Oh Gott – musstest du mir ausgerechnet das sagen?“, entfuhr es ihm, ehe er sich endgültig zu ihr hinabbeugte und seine Lippen über ihren Mund gleiten ließ. Sie war noch süßer als am Tag zuvor. Ein Hauch des Weins, den er ihr zu trinken gegeben hatte, haftete noch an ihrer zarten, rosigen Haut, als er zielstrebig ihre Lippen teilte und mit sanften, kosenden Bewegungen ihre Zunge suchte. Sara ließ sich nicht lange bitten, mit einem leisen Stöhnen schlang sie ihre Arme um seinen Hals und kam ihm eifrig entgegen. Ihre unschuldige Begeisterung entzückte ihn auch dieses Mal wieder, und er rückte näher an sie heran, bis er sie halb unter seinem Körper begraben hatte. Ihr eifrig züngelndes Spiel dauerte eine Ewigkeit, ehe Pietro langsam den Kopf hob und sie ansah. Ihr Gesicht war von einer feinen Röte überzogen, ihre Augen leuchteten wie im Fieber. Ihr Atem ging schnell und tief.

„Sara!“, murmelte er, und strich sanft mit einer Hand über ihre Wange.

„Warum hört Ihr auf?“ Ihre Stimme klang heiser, fast klagend.

„Oh Sara, du weißt ja nicht …“ Er hielt inne und schluckte hart. Dann ließ er sie los und richtete sich auf. Ihre Arme gaben seinen Nacken nur widerwillig frei. Wieder einmal war er an diesem Punkt angelangt. Und wieder wurde ihm die Tragweite seines Tuns bewusst. „Du hättest nicht herkommen sollen!“, murmelte er rau, konnte aber den Blick nicht von ihr wenden.

„Und Euer Picknick und das Sonnensegel und die Teppiche hier? – Soll das alles denn umsonst gewesen sein?“ wisperte sie.

„Besser das hier umsonst, als …“

„Als was?“

„Sara – ist dir denn nicht klar, wohin das führen wird, wenn du nicht jetzt sofort aufstehst und vor mir davonläufst?“

„Aber warum sollte ich das tun?“ Sanft fuhr sie mit einer Fingerspitze seine Augenbraue nach, folgte ihrer geschwungenen Linie nach außen zur Schläfe, von dort weiter zu seinem Ohr und über die Wange hinweg zu seinem Mundwinkel.

„Um deine Unschuld für deinen zukünftigen Mann zu retten, darum. Du führst mich mehr in Versuchung, als ich dir sagen kann, und ich weiß nicht, wie lange mein Anstand und mein Gewissen noch stärker sind als der Teil von mir, der dich unbedingt haben will.“

 

 

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