Aus "Eine Liebe an der Adria"
Ein strahlend blauer Herbsthimmel begrüßte Lara, als sie die Jalousien öffnete. Die Luft dieses Morgens war erstaunlich klar im Gegensatz zu den letzten Tagen, an denen stets ein leichter Morgendunst die Sonne mit einem zarten, milchigen Schleier verhüllt hatte. In der Nacht jedoch war Wind aufgekommen, und nun schien alles auf subtile Weise verändert. Zu Hause waren ihr diese kleinen atmosphärischen Unterschiede nie so deutlich aufgefallen, und auch hier konnte sie nicht wirklich den Finger darauflegen. Es war mehr ein Gefühl als eine messbare Tatsache. Das Licht, das so anders war als daheim in Regensburg, bescherte ihr unversehens eine Art Urlaubsfeeling, und sie konnte mit einem Mal nachvollziehen, was berühmte Künstler wie William Turner und Goethe so unaufhaltsam in den Süden gezogen hatte.
Sie lächelte. Ihr fiel kein Grund für ihre unvermittelt gute Laune ein, außer vielleicht der Tatsache, dass sie langsam anfing, sich hier im Haus ihrer Freunde zurechtzufinden. Der Ankunftsschock, den sie immer bekam, wenn sie irgendwo das erste Mal nächtigte, hatte sich verflüchtigt und war einer angenehmen Routine gewichen. Einen Gutteil hatte sicher auch das gemütliche Ferienhäuschen dazu beigetragen. Allein der große offene Kamin mit der Umrahmung aus rustikalen Ziegeln sorgte allabendlich für heimeliges Ambiente. Dieses Wohnzimmer, das so anders war als ihr eigenes, kühl durchgestyltes Zuhause, war ihr anfangs sehr fremd erschienen. Dass ihr der Kontrast so gut gefiel, war ihr beinahe unheimlich gewesen.
Der Gedanke an daheim ließ Laras gute Stimmung für einen Moment verpuffen, doch als sie sich nach dem Zähneputzen dazu zwang, ihr Spiegelbild anzulächeln, kehrte sie wieder zurück.
Na also. Ging doch.
Sie warf sich einen kritischen zweiten Blick zu. Große graugrüne Augen wurden von dunklen Wimpern betont, eine nicht zu lange, fein geschnittene Nase und einigermaßen volle Lippen. Das schmale Gesicht umrahmt von glattem, mahagonifarbenem Haar, das sie zu einem fast streng wirkenden Pagenkopf geschnitten trug.
Die Frage drängte sich ihr auf, was daran nicht genügt haben mochte … doch dann erinnerte sie sich stirnrunzelnd daran, was sie sich vorgenommen hatte: Denk nicht mehr dran. Vergiss, was passiert ist. Du bist jetzt hier, und hier geht es dir gut. Punktum.
Draußen wehte ihr der kalte Wind scharf entgegen, der den Himmel über Nacht so blank geputzt hatte. Also ließ sie das Fahrrad stehen und fuhr mit dem Auto. Um die veränderte Stimmung auf sich wirken zu lassen, nahm sie nicht den direkten Weg, sondern fuhr am Flussufer entlang. Zwar waren hier eigentlich nur Fahrräder erlaubt, doch Lara gab der spontanen Lust nach, mal nicht die vorschriftentreue Deutsche zu sein, sondern es den lebenslustigen Italienern nachzumachen, die Straßenschilder für optional hielten und sich regelmäßig mit selbstverständlicher Nonchalance über sie hinwegsetzten.
Die Strecke in das kleine Hafendorf Goro führte sie um das Kastell von Mesola herum. Von der erhöhten Dammstraße aus hatte sie einen schönen Blick auf das Bauwerk, das einige Jahrhunderte auf dem Buckel hatte und von Alfonso II., dem Herzog von Este, angeblich für seine Gattin Lucrezia Borgia als Jagdschloss erbaut worden war. Den Reiseführern nach, die sie im Buchregal gefunden hatte, war es ein Ableger des großen Renaissanceschlosses von Ferrara und so wie dieses aus rotem Ziegelstein erbaut. Die vier Türme an den Ecken gaben dem quadratischen Bau ein trutziges Aussehen, und der große, mit Flusskieseln gepflasterte Innenhof hatte früher sicher viele Pferde und vornehme Jagdgesellschaften kommen und gehen sehen – Raum für Fantasie war hier genug.
Lara blieb auf der Uferstraße und fuhr langsam und gemächlich. Hin und wieder musste sie Schlaglöchern ausweichen, ansonsten konnte sie sich ganz auf ihre Umgebung konzentrieren. Die Flussauen standen voller exakt in Reih und Glied gepflanzter Pappelhaine, die Ufer waren mit mannshohem Gebüsch überwuchert und von Silberweiden durchzogen. Rechts säumten Felder ihren Weg, jedes schön schnurgerade wie mit dem Lineal gezeichnet. Ein Gewirr an Kanälen durchzog die Landschaft. Wenn die Sonne im richtigen Winkel stand, blitzte das Wasser darin für einen kurzen Augenblick auf, als hätte jemand Diamanten über die Ebene verstreut. Einzelne Gehöfte lagen über die Felder verteilt wie Rosinen auf einem Blechkuchen. Überhaupt … dieses flache Land … der hohe Himmel ließ sowohl dem Auge als auch der Seele viel Freiraum, sich darin zu verlieren.
»Das Podelta ist der Beweis dafür, dass die Erde eben doch eine Scheibe ist«, hatte Bert, der Mann ihrer Freundin Valerie, einmal gesagt.
Dieser Satz drängte sich ihr immer wieder auf, und jedes Mal spürte sie, dass sich ihre Mundwinkel unwillkürlich nach oben stehlen wollten bei dem Gedanken.
Vor Loris‘ Hafenbar parkte sie ihren Wagen und freute sich über die vielen freien Parkplätze auch heute wie am ersten Tag. Zu Hause war es in der engen, verwinkelten Innenstadt ein ewiger Kampf um Parkplätze, und die öffentlichen Parkhäuser wurden immer teurer. Neun Euro für zwei Stunden! Daher war sie mit großer Erleichterung vor ein paar Jahren an den Stadtrand gezogen, aber auch dort war es nicht immer einfach, das Auto unterzubringen.
Zumindest nicht solche, wie sie nach Roberts Willen hätte fahren sollen. Am liebsten hätte er ihr einen VW Touareg oder einen Jaguar F Pace verpasst. Als Statussymbol natürlich. Ob sie damit im Stadtverkehr Probleme bekam, war ihm egal gewesen. Erst nach langem, zähem Ringen war es ihr gelungen, ihn auf einen Audi A4 Kombi herunterzuhandeln. Allerdings hatte er sich beim Allradantrieb durchgesetzt, doch damit konnte sie leben.
Lara schüttelte sich. Weniger wegen der Kälte. Gegen die wickelte sie die Jacke fest um sich, schlang den Schal einmal mehr um ihren Hals und genoss so noch einen Moment lang die Aussicht auf den kleinen Fischerhafen, in dem die Schiffe und Boote auf der bewegten Wasseroberfläche auf und ab tanzten. Die Böen waren hier heftig und pfiffen teilweise hörbar um die Führerkabinen und die metallenen Aufbauten der Muschelkutter.
Sie ging hinein, statt sich wie in den Tagen zuvor auf die Terrasse zu setzen.
»Ciao, Lara«, begrüßte Loris sie kameradschaftlich. Sie hatten sich während der letzten Zeit häufiger gesehen, als Lara regelmäßig mit dem Fahrrad hergekommen war. »Was darf’s denn sein?«
»Ciao, Loris. Ich nehme einen Orangensaft und ein Tramezzini.«
»Wenn du nur eines willst, heißt es Tramezzino«, erklärte er ihr. »Welches möchtest du? Schinken und Artischocken oder Thunfisch mit Ei?«
Sie entschied sich für Schinken und setzte sich an einen der freien Tische am Fenster. Die schlichte Einrichtung mit den einfachen Tischen und Stühlen aus Kunststoff wirkte angenehm entspannt auf sie, auch wenn sie sich bei ihrem ersten Besuch hier ein wenig fehl am Platz gefühlt hatte. Es war ein bisschen wie mit Valeries Ferienhaus und ihrem eigenen Zuhause: Ein permanenter Kontrast zwischen gestylt und gemütlich, und immer drängender wurde in ihr der Verdacht, dass das ganze Designerzeugs, das sie sonst immer umgab, nicht wirklich ihre Welt war.
Offensichtlich war heute kein Tag zum Fischen, denn ein paar lärmende junge Männer traten ein, die allesamt den regionalen Dialekt sprachen, von dem Lara noch immer kein Wort verstand.
»Warum ist heute so viel los bei dir?«, fragte sie, als Loris ihr den Saft und das Sandwich brachte.
»Heute ist zu viel Wind, da fahren die meisten Fischer nicht raus aufs Meer«, bestätigte er ihre Vermutung. »Morgen vielleicht wieder. Zum Glück kommt später Sania zur Verstärkung.«
Sania, erinnerte sich Lara, war das junge Mädchen, das bedient hatte, als sie vor etwa drei Wochen das erste Mal hier gewesen war. Tatsächlich traf sie kurze Zeit später ein und lächelte Lara zur Begrüßung zu. Dann band sie sich ihre Schürze um und gesellte sich zu Loris hinter die Theke. Als Lara aufgegessen hatte und Loris den leeren Teller abräumte, hatte er offensichtlich Lust, ein wenig zu plaudern.
»Hast du eigentlich schon unsere neuen Billardtische gesehen?«, fragte er sie.
»Nein, wo denn?«
»Komm, ich zeig sie dir.«
Sie folgte ihm ins Nebenzimmer, das sich als fast doppelt so groß wie das eigentliche Café erwies. Es hatte eine riesige Bar aus dunklem Holz, war mit ebensolchen Tischen und Stühlen eingerichtet und wirkte sehr gemütlich.
Der Knüller allerdings waren drei große Billardtische, die richtig professionell aussahen.
»Ganz neu«, erklärte der Wirt stolz. »Wir haben letzten Freitag die Umbauarbeiten abgeschlossen und abends die Bar hier eröffnet. Da war mächtig was los. Schade, dass du nicht hier warst.«
Lara nickte anerkennend. »An der Uni habe ich gern Billard gespielt. Aber das ist auch schon wieder acht Jahre her. Meistens habe ich nur versucht, die weiße Kugel zu treffen, und dann zugeschaut, was passiert.«
»Komm mal abends hierher, dann kannst du üben«, bot ihr Loris an.
Sie zögerte. »Ach weißt du, ich kenne doch hier niemanden. Allein macht das auch keinen so großen Spaß.«
»Eben deshalb. Beim Billard wurden schon unzählige Freundschaften geschmiedet.«
»Na ja, das klingt schon sehr verlockend. Ich hoffe nur, die sprechen nicht alle bloß euren Dialekt, sonst weiß ich nachher gar nichts über meine neuen Freunde.«
Loris lachte. »Das kommt mit der Zeit, wart’s nur ab. Und ein paar von ihnen können tatsächlich auch richtiges Italienisch.«
»Vielleicht komme ich wirklich mal vorbei.«
Während sie sich noch unterhielten, war von vorn ein lautes Klirren zu hören, zugleich ein kurzer, aber spitzer Schrei und danach Stille. Sie eilten zurück ins Café, das sich in der Zwischenzeit geleert hatte.
Sania stand hinter der Theke, ein zerbrochenes Glas in der Hand, von der hellrotes Blut tropfte, und sah sie beide ratlos an. »Ich habe mich geschnitten«, sagte sie tonlos, ehe sie sich langsam auf den Boden setzte.
Lara bemerkte, wie das Mädchen immer bleicher wurde, während Loris vorsichtig die Wunde inspizierte.
»Ich glaube, sie muss zum Arzt. Der Schnitt scheint ziemlich tief zu sein.« Ratlos wandte er sich an Lara. »Kannst du sie hinfahren?«
»Ich habe keine Ahnung, wo hier der Arzt ist. Wenn du es mir genau erklärst …«
»Nein«, unterbrach er sie, »das ist zu kompliziert, es ist besser, wenn ich sie selbst hinbringe. Aber dann ist niemand im Lokal!« Er verzog das Gesicht und sah sie fragend an.
»Ich kann inzwischen hierbleiben und auf dich warten. Ich werde das schon irgendwie schaffen, bis du wieder da bist.«
»Das wäre super, danke.«
Loris umwickelte Sanias Hand provisorisch mit einer Küchenserviette und erklärte Lara nebenbei, wie Kasse und Kaffeemaschine funktionierten. Dann half er dem immer noch kreidebleichen Mädchen auf die Beine und führte sie nach draußen.
Lara holte tief Luft.
Was hatte sie da nur geritten? Es stimmte schon, sie hatte während ihres Betriebswirtschaftsstudiums in Regensburg in einem Restaurant gejobbt, weil ihr Vater der Meinung gewesen war, dass es nicht schaden konnte, wenn seine verwöhnte Tochter lernte, selbst ein wenig Geld zu verdienen. Aber hier? Wollte sie sich nicht eigentlich entspannen? Anders als im Büro einfach mal keine Verantwortung haben?
Sie hoffte inständig, dass Loris bald wieder zurückkäme und bis dahin niemand etwas von ihr wollte.
Keiner ihrer beiden Wünsche sollte in Erfüllung gehen.
Es waren höchstens fünf Minuten vergangen, seit Loris die Bar verlassen hatte, als ein Schwung junger Leute hereinkam, von denen Lara einige schon einmal gesehen hatte. Alle bestellten durcheinander, und schnell kannte sie sich vorn und hinten nicht mehr aus.
So ging das auf keinen Fall!
Mit erhobenen Händen bat sie verzweifelt um Ruhe und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, als alle Augen auf sie gerichtet waren.
»Hört mal, Sania hat sich die Hand aufgeschnitten, und Loris bringt sie gerade zum Arzt«, erklärte sie, so ruhig sie nur konnte. »Ich war zufällig hier und helfe ihm, aber ich kenne mich überhaupt nicht aus. Bitte seid so nett und redet langsam mit mir, weil ich euren Dialekt sonst nicht verstehe.«
Leises Lachen und ein Raunen waren die Antwort. Während ihrer letzten Worte hatte eine weitere kleine Gruppe das Lokal betreten, und ehe sich Lara versah, löste sich einer der jungen Männer von den anderen und trat neben sie hinter die Bar.
»Ich helfe dir«, erbot er sich. Überrascht und dankbar zugleich machte sie Platz. »Jetzt seid doch endlich mal leise, zum Donnerwetter!«
Stille breitete sich aus.
»Also, was wollt ihr?«
Einer nach dem anderen gab seine Bestellung auf, und der Fremde dirigierte Lara von rechts hinten nach links vorn und wieder zurück, um die Bestellungen der Gäste abzuarbeiten, während er selbst Cola, Bier und Wein ausschenkte. Nebenbei machte er die Kaffees und kassierte ab. Nach etwa einer halben Stunde war der Andrang schließlich vorbei, und sie nutzte die Gelegenheit, um einmal tief Luft zu holen.
»Danke für deine Hilfe! Ich bin Lara.« Sie reichte ihm die Hand.
Der Kerl, dem sie da gegenüberstand, war schon auf den ersten Blick ein völlig anderes Kaliber als alle, die sie bisher in Goro kennengelernt hatte: dunkle geschwungene Brauen über Augen, die so blau waren, wie sie noch nie welche gesehen hatte, gerahmt von langen schwarzen Wimpern; ein scharf geschnittenes, leicht gebräuntes Gesicht mit hoher Stirn und akzentuierten Wangenknochen. Von der kühnen, geraden Nase führten zwei tief eingegrabene Lachfältchen zu den Mundwinkeln, die Lippen waren geschwungen und so voll, wie man es einem Mann gerade noch durchgehen lassen konnte, und das energische, markante Kinn zierte ein kleines Grübchen in der Mitte.
Seine Erscheinung strahlte eine deutliche physische Präsenz aus.
»Freut mich, Lara. Ich bin Alessandro.«
Sein Händedruck war fest und angenehm. Entweder täuschte sie sich, oder er schüttelte ihre Hand einen Augenblick länger als nötig, ehe er sich abwandte und ein Bier kassierte. Während er den Kopf zur Seite geneigt hielt, bemerkte sie in seinem kurz geschnittenen, dunklen Haar ein paar silberne Fäden an den Schläfen. Ihre Inspektion wurde abrupt unterbrochen, als er ihr wieder seine Aufmerksamkeit schenkte.
»Du bist also keine Kellnerin, aber einer dahergelaufenen Touristin hätte Loris seine Bar auch nicht überlassen. Was tust du in der Gegend? Warte mal …« Er trat einen Schritt zurück und musterte sie. »Dich habe ich doch irgendwo schon mal gesehen!«
Verwundert schaute sie ihn an, gab aber keine Antwort. Sie erinnerte sich nicht, ihm bereits begegnet zu sein, und das würde sie, das war sicher.
Er schnippte zufrieden mit dem Finger, als es ihm einfiel.
»Na klar, das war vorn am Hafen, ist schon eine Weile her. Da hast du aber nicht den Eindruck gemacht, als wärst du auf so viel Gesellschaft versessen, wie du sie heute hast.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin keine Touristin, aber ich mache hier Ferien. Wenn nicht gerade medizinische Notfälle eintreten, habe ich meine Ruhe.«
»Ungewöhnliche Jahreszeit für Ferien«, meinte er.
Seine direkte Art befremdete sie. »Von gewöhnlich hatte ich genug«, erwiderte sie kurz angebunden.
Fiel ihm der verschlossene Zug auf, der über ihr Gesicht huschte? Jedenfalls wechselte er das Thema.
»Lass mich dir ein paar von meinen Freunden vorstellen.«
Während er ihr der Reihe nach die Namen der Anwesenden aufzählte, musterte sie ihn verstohlen von der Seite. Er war mit Sicherheit einer der größten Italiener, denen sie bisher begegnet war. Unter seinem dunkelblauen Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte, erkannte sie breite Schultern und muskulöse Oberarme. Er hatte eine schmale Taille, und unter dem Stoff seiner Jeans spannten sich unübersehbar kräftige Oberschenkel.
Ihr wurde bewusst, dass sie ihn anstarrte, und sie wandte abrupt den Blick ab.
Falls es jemandem außer ihr aufgefallen war, ließ es sich zumindest keiner anmerken. Sie wurde freundlich und mit einem Kopfnicken von den Francos, Paolos, Dinos, Ginos und wie sie alle hießen, begrüßt.
»Freut mich sehr«, meinte sie mit einem unsicheren Lächeln, »aber bitte entschuldigt, wenn ich mir bei so vielen Namen nicht alle auf einmal merken kann.«
»Ah, das macht nichts«, rief einer von ihnen vorlaut und grinste sie über den Tresen hinweg an. »Hauptsache, du vergisst nicht, dass ich Maurizio bin!«
»Nein, Maurizio, bestimmt nicht.« Sie schüttelte ihm die Hand. »Piacere.«
»Wenn du gerade mal nicht arbeitest, sollten wir eine Partie Billard spielen«, versuchte Maurizio, seine Annäherungsversuche fortzusetzen. »Auch wenn du eigentlich gar nicht in Loris‘ Fischerbude passt.«
»Wie … meinst du das?« Lara starrte ihn befremdet an.
»Du bist viel zu …« Maurizio wedelte mit der Hand unbestimmt in ihre Richtung. »… schick angezogen, finde ich.«
»Äh …« Sie schaute unwillkürlich an sich hinunter. Natürlich hatte sie bereits bemerkt, dass das bevorzugte Outfit des Großraums Mesola-Goro aus Trainingsanzügen bestand, aber diese »Mode« musste sie ja nicht unbedingt mitmachen.
Oder doch?
War sie wirklich so auffallend overdressed in Stoffhose und Desigual-Longshirt? Immerhin war das für sie schon bequem und eine willkommene Abwechslung zu ihren sonstigen Businesskostümen.
Alessandro rettete sie aus der Verlegenheit. »Du bist unhöflich, Maurizio«, tadelte er ihn, klopfte ihm über den Tresen hinweg aber gutmütig auf die Schulter. »Und eins ist klar: Die Signorina ist nicht deine Kragenweite, das hast du eben selbst bestätigt!«
»Deine wohl schon eher«, gab der Gefoppte keck zurück. Die anderen feixten, und Alessandro ließ ein tiefes, leicht raues Lachen hören, da ging die Tür auf, und Loris kam herein. Er wirkte müde und schien sehr überrascht zu sein, Alessandro hinter der Theke zu sehen.
»Ciao, Alessandro. Was machst du denn hier?«, fragte er, bevor die beiden Männer sich mit lässigem Handschlag begrüßten.
»Ich war gerade mit ein paar Jungs unterwegs und habe den Trubel mitbekommen. Da bin ich Lara etwas zur Hand gegangen, sie machte einen ziemlich ratlosen Eindruck.«
Besorgt wandte Loris sich an Lara. »Wie geht’s denn an der Front?«
»So lala. Ich bin froh, dass du wieder da bist! Ohne Alessandro hätte ich ganz schön dumm und deine Bar bestimmt schlimm ausgesehen.«
»Ach was, sie hat Talent, Loris«, warf Alessandro lässig ein, während er seine Hände abtrocknete und sich dann auf die andere Seite der Theke stellte. »Du solltest sie behalten, eine schöne Deutsche ist hier garantiert der Renner.«
Lara wusste nicht, ob sie pikiert oder geschmeichelt sein sollte, und funkelte ihn wortlos an. Er quittierte ihren Blick mit einem breiten Grinsen, bei dem seine wirklich unverschämt blauen Augen aufleuchteten.
Loris lachte mit ihm. »Da könntest du recht haben.«
»Ich muss jetzt gehen. Aber vorher, mysteriöse Fremde, mach mir doch bitte noch einen schönen caffè ristretto, sì?«
Wortlos drehte sie sich um, schraubte das Sieb aus der Halterung der Kaffeemaschine, klopfte es schwungvoll aus, füllte es mit frischem Pulver, positionierte es wieder unter dem Wasserventil und drückte auf den Knopf.
»Siehst du, Loris, ich habe dir ja gesagt, sie hat echt Talent. So schöne Crema bringst nicht mal du zustande.«
Alessandro kippte den Inhalt seiner kleinen Tasse mit einem Schluck hinunter, und Lara fragte sich, wie er es nur schaffte, ihn schwarz und ohne Zucker zu trinken. Als er zahlen wollte, wehrte Loris heftig ab.
»Geht aufs Haus, für deine Hilfe.«
»Danke. Schönen Nachmittag noch und viel Erfolg, Lara. Ciao!«
Als er verschwunden war, sah Lara Loris fragend an.
»Wie geht’s Sania?«
»Ganz gut soweit. Aber sie wird ein paar Tage nicht arbeiten können.« Ratlos sah er sie an. »Ich möchte nicht unhöflich sein, und du hast bestimmt was Besseres zu tun in deinen Ferien … aber würde es dir was ausmachen, mir ein paar Tage zu helfen? Nicht lange«, beeilte er sich zu versichern, als er ihr Zögern bemerkte, »und nur ein paar Stunden. Vielleicht am Abend?«
Lara überlegte.
Was hinderte sie eigentlich daran? Abends saß sie sowieso meistens nur auf der Couch, sah sich Filme im Fernsehen an, die sie schon kannte, oder las, bis sie müde wurde. Alles nur Beschallung, um nicht an zu Hause denken zu müssen. Das hier würde als Ablenkung genauso gut dienen, und es war entschieden mal was anderes. Und wenn sie schon mal jemandem aus der Patsche helfen konnte …
»Also gut. Ich mach’s, Loris«, antwortete sie. »Wann soll ich morgen antreten?«
Sein erleichtertes Lächeln bestärkte sie in ihrer Entscheidung. »Sagen wir, um acht?«
»Wunderbar, ich werde pünktlich sein.«
Lara fühlte sich merkwürdig beschwingt, als sie das Lokal verließ, um zurückzufahren. Als hätte sie bereits etwas Gutes getan, das ihr ein Gefühl moralischer Befriedigung gäbe, indem sie ihm ihre Hilfe zugesagt hatte.
Der Wind hatte sich noch immer nicht gelegt, also vergrub sie die Nase in ihrem Schal und steuerte mit schnellen Schritten ihr Auto an.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ sie hochschauen. Unter zwei Pinien, welche die Einfahrt zum Parkplatz flankierten, stand ein Mann und telefonierte. Er gestikulierte heftig nach typisch italienischer Art, sodass sie fast das Gefühl hatte, zu verstehen, was er sagte.
Schmunzelnd ging sie weiter zum Auto. Der Mann beendete das Gespräch und winkte ihr zu. Als er auf sie zukam, erkannte sie ihn – es war Alessandro.
Obwohl sie am liebsten einfach weitergegangen wäre, hielt sie an und wartete auf ihn. Es gab keinen Grund, offen unhöflich zu ihm zu sein, und nicht nur, weil er ihr vorhin den Hintern gerettet hatte. Das gehörte sich einfach nicht.
»Du bist ja noch da«, formulierte sie das Offensichtliche und schenkte ihm ein knappes Lächeln.
»Ich wurde aufgehalten.« Er lächelte zurück und schwenkte sein Handy, als sei das Erklärung genug.
»Aha. Ja, dann …«
»Ganz schön windig heute, was?«
Ein Gespräch übers Wetter? Wirklich? Beinahe hätte sie gelacht. So souverän, wie er hinter dem Tresen gewirkt hatte, kam er ihr plötzlich nicht mehr vor.
»Allerdings«, stimmte sie seiner scharfsinnigen Beobachtung zu.
»Du solltest dich nicht erkälten.«
Nun lachte sie tatsächlich. »Sagt der, der mich auf dem Weg zum warmen Auto aufgehalten hat.«
Alessandro lachte mit. »Tut mir leid. Sehr intelligent von mir, was?«
»Irgendwie … schon, ja. Und ausgerechnet mit diesem Thema …«
»Du willst doch nicht etwa über Fußball oder Formel 1 plaudern?« Er sah sie gespielt schockiert an.
Lara konnte ein Kichern nicht unterdrücken, obwohl sie langsam kalte Finger bekam. »Nein, Gott bewahre. Auf keinen Fall.«
»Gut. Das interessiert mich nämlich auch kein bisschen.«
»Ein Italiener, der nicht fußballverrückt ist? Nicht zu fassen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich war noch nie in meinem Leben in einem Fußballstadion.«
»Da haben wir tatsächlich was gemeinsam. Ich nämlich auch nicht.«
Zwei Atemzüge lang herrschte Schweigen. Lara zog die Jacke enger um sich und starrte auf ihre Schuhspitzen. Wie sollte sie sich jetzt nur aus der Affäre ziehen, ohne unhöflich zu wirken?
»Also dann …«, fing sie unbeholfen an.
»Du frierst …«, sagte er im selben Moment und sah sich um. »Wo steht dein Auto?«
Sie nickte mit dem Kopf ein paar Meter weiter. »Da vorn.«
»Dann mal los. Sonst wird aus Spaß tatsächlich Ernst, und ich bin schuld.«
»Und ich würde meinen ersten Arbeitstag morgen gleich mit einer Krankmeldung beginnen«, bemerkte Lara mehr zu sich selbst als zu ihm und kramte in der Handtasche nach ihrem Schlüssel, während sie nebeneinander in Richtung ihres Wagens gingen.
»Was?«
Sie sah auf. »Na ja … ich vertrete Sania ab morgen, bis ihr Finger verheilt ist«, erklärte sie und betätigte die Fernbedienung.
»Wie hat Loris, dieser Fuchs, das nur angestellt?«
»Er hat einfach gefragt«, antwortete sie trocken und erntete ein schiefes Grinsen, das seine blauen Augen zum Leuchten brachte.
»Soso. Dann bist du jetzt also Teilzeiturlauberin mit Job.«
»Sieht so aus.«
Kopfschüttelnd sah er sie an. »Normalerweise sucht man im Urlaub nach einer Pause vom Alltag.«
Seine Worte berührten sie unangenehm. »Vielleicht suche ich einen neuen Alltag«, sagte sie kurz angebunden. »Und jetzt muss ich los. Hat mich gefreut.«
»Ciao, Lara. Man sieht sich!«
Jetzt aber nichts wie weg.